top of page

Alles bei euch geschehe in Liebe 11

Autorenbild: Roland BrunnenkantRoland Brunnenkant

Text: Stefan Glättli, Facharzt FMH für innere Medizin, Thomaskirche, Basel (CH)

Alles bei euch geschehe in Liebe – Gedanken zur Jahreslosung 2024

 

Mein erster Gedanke zu diesem Statement von Paulus ist: Totale Utopie. Das schaffe ich nie. Trotzdem verspüre ich in mir eine grosse Sehnsucht geliebt zu werden und auch lieben zu können. Eigentlich belastet es mich, in einer Welt zu leben, in welcher radikale Ideen so stark den gesellschaftlichen Diskurs prägen. Wenn ich eine konservative Haltung in der Genderdiskussion zeige, werde ich abgelehnt. Ebenso, wenn ich offen bin für Menschen, welche einen schweren, gefährlichen Migrationsweg hinter sich haben. Eine Meinung öffentlich zu äussern, führt sehr schnell dazu, abgestempelt und in eine bestimmte gesellschaftliche Ecke positioniert zu werden.

Konflikte gehören zum Mensch-Sein. Sie sind begründet in unseren Verschiedenheiten. Jede und jeder von uns ist unterschiedlich aufgewachsen, unterschiedlich geprägt. Schon als kleines Kind lernen wir, zu schauen, wie andere eine Aufgabe lösen. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, wenn die Schwester oder der Bruder ein größeres Kuchenstück erhält. Wir sind beleidigt, wenn wir im Spiel verlieren. Als Erwachsene werden Machtpositionen ausgenützt, um Mitmenschen zu plagen. Es ist viel von Mobbing am Arbeitsplatz die Rede. Auch in vielen Partnerschaften werden Konflikte mit großer Aggressivität ausgetragen.

Wie könnte dies denn aussehen? Konflikte austragen in Liebe? Was wäre dazu notwendig?

Als erstes kommt mir «Zuhören» in den Sinn. Ohne ruhiges, sorgfältiges Zuhören werde ich mein Gegenüber nie verstehen können. Ohne mir Zeit zum Zuhören zu nehmen, werden ich viel zu rasch beim Verurteilen landen. Mit Zuhören werde ich die grosse Chance haben, Lebensgeschichten zu erfahren. Und es wird plötzlich viel schwieriger jemanden abzustempeln. Der Gegner wird zum Gesprächspartner, auch wenn die Meinungen vielleicht nach wie vor weit auseinandergehen.

Damit bin ich bereits beim zweiten Punkt: «Hintergründe, Zusammenhänge erfassen». Zu ergründen, warum jemand eine bestimmte Meinung vertritt, schafft Verständnis für den Andern/die Andere.

Damit bin ich aber noch weit von der geforderten Liebe entfernt: «Alles bei euch geschehe in Liebe!». Dazu braucht es etwas Drittes – ich brauche hier ein altmodisches Wort – nämlich Demut. Demut bedeutet für mich in diesem Zusammenhang, dass ich mir zugestehe, dass ich Liebe nicht allein schaffen kann. Ich bin angewiesen auf die Beziehung zu Gott, der mich zuerst geliebt hat, dem ich zu tiefst vertrauen kann, der mir meine Identität gegeben hat. Wenn ich so geprägt bin, werde ich eher in der Lage sein, auch meinen kritischen Mitmenschen verständnisvoll und liebevoll zu begegnen.

Comments


bottom of page