Text: Esther Müller, Leitung Administration, Thomaskirche Basel (CH)
Diese Aussage kann durchaus bei den einen oder anderen ein ungutes Gefühl auslösen. Ein Gott, der mich sieht, sieht ja auch alles, was ich eigentlich nicht unbedingt preisgeben möchte. Er sieht Dinge, die ich am liebsten verborgen halten möchte und für die ich mich vielleicht sogar schäme.
Dieses Gottesbild des lieben Gottes, der alles sieht, was ich Schlechtes oder Falsches tue und mich dafür bestraft, ist mir ehrlich gesagt fremd.
Von meinem Typ her, bin ich eher in der Versuchung zu denken, dass Gott eher auf wichtigere Leute achtet als auf mich. Ich bin ja nur eine unbedeutende Frau, die in der Masse unsichtbar bleibt.
Als Kind war ich ein paar Jahre bei den Pfadfindern und erhielt dort den Namen „Caillou“ (Kieselstein). Die Bedeutung dazu war, dass ich ein kleiner Kieselstein unter ganz vielen anderen bin und nicht auffalle. Aber wenn ich nicht dort wäre, wo ich bin, würde etwas fehlen. Das beschreibt dieses Gefühl recht gut. Ich falle überhaupt nicht auf in der Masse; gleichwohl gäbe es eine Lücke, wenn ich nicht da wäre.
Vor ca. 10 Jahren nahm ich, wie schon öfters, an einer Stille-Retraite für Frauen teil. An einem Morgen gab es nicht die übliche Bibelarbeit, sondern eine geführte Meditation. Dabei hatte die Leiterin uns in die Bibelstelle Johannes 10,1-5 mit hineingenommen und mit eigenen Worten hindurch geführt. Wir sollten dabei die Augen geschlossen halten und uns versuchen, dieses Bild vorzustellen.
„Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter, und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen.“
Ich habe eine blühende Fantasie und konnte mir diese Szene sehr bildlich vorstellen. Wie ich da als Schaf in der großen Schafherde stehe und den Hirt in den Stall kommen sehe. Da war auch genau dieses Gefühl. Ich „verschwinde“ da in der großen Masse und freue mich einfach daran, Jesus zu sehen. Aber das war’s dann auch, mehr habe ich nicht erwartet. Und plötzlich schaute Jesus direkt mich an und nannte meinen Namen: „Esthi, komm raus aus dem dunklen, muffigen Stall. Komm auf die Wiese und folge mir, ich führe dich zu einer frischen Wasserquelle“. Dieses liebevolle Gesicht von Jesus werde ich nie vergessen. Und es hat mich unendlich tief berührt!
Jesus hat mich direkt angeschaut und angesprochen... mit meinem Namen. Ich war ihm wichtig genug und nicht ein unbedeutender Teil einer großen Menge.
Ja, Gott ist ein Gott, der mich sieht! Die anderen auch, aber mich eben auch.
Diese Aussage möchte ich nun aber noch umkehren. Bin ich auch ein Mensch, der Gott sieht? Sehe ich ihn im Alltagstrubel, trotz kleineren und größeren Sorgen?
Ehrlich gesagt „verschwindet“ Gott in meinem Alltag immer wieder. Natürlich bleibt er immer bei mir, aber ich sehe ihn nicht mehr sehr deutlich. Sorgen, Herausforderungen, Frustmomente, Ärger schieben sich vor dieses liebevolle Angesicht und plustern sich auf. Und obwohl ich es besser wüsste, versuche ich immer wieder selbst, solche Situationen zu meistern und beheben. Nur um dann irgendwann zu realisieren, dass es eben nicht funktioniert, dass ich Gott ganz dringend brauche. Schon so oft habe ich erlebt, wie Gott Klarheit in Situationen hinein schenkte, Frieden in mein Herz goss und Lösungswege aufzeigte und doch lasse ich immer wieder Dinge zwischen mich und Gottes liebevolles Angesicht kommen.
Das möchte ich immer mehr lernen, dass ich das nicht zulasse, sondern mit allem und in allen Situationen zu Gott komme und sie ihm hinhalte.
Gott ist ein Gott, der mich sieht - mit allem, was dazu gehört. Ich bin genug wichtig für ihn, er wendet sein liebevolles Gesicht mir immer wieder neu zu.
Und auch ich möchte ihn nicht aus den Augen verlieren und ihn sehen, in den ganz gewöhnlichen Herausforderungen des Alltags!
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